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Hajo Seng: Struktur

Fraktale Einstieg polynomiale Fraktale exponentielle Fraktale


Bernoulli-Shift

Die meisten Zahlen und damit auch die meisten Größen können nur näherungsweise angegeben werden. Das gilt nicht nur für transzendente Zahlen wie π oder e, auch nicht nur für die nicht-rationalen Zahlen wie die Wurzeln, sondern auch für viele Brüche, etwa 1/3 oder 1/7. Für diese Zahlen wären unendlich viele Ziffern notwendig, um sie in ihrer Dezimalform darzustellen. Diese Dezimalform, aber ist die Form, in der mit solchen Zahlen gerechnet werden kann. Computer setzen dies in Dualform um, aber auch hier wären unendliche viele Ziffern zur Darstellung notwendig. Da Computer nur über endliche Kapazitäten verfügen, werden solche Zahlen nur näherungsweise dargestellt, 1/7 etwa als 0,142857142857. Die Differenz zwischen Näherung und Original wird aber mit jeder angewandten Rechenoperation größer. Diese Beobachtung lässt sich dahingehend verallgemeinern, dass jede sprachliche Darstellung von Wirklichkeit ebenfalls eine Annäherung ist; eine, die mit jeder Operation - oder Abstarktion - immer ungenauer wird. Am Ende ist die Genauigkeit derartig gering, dass das dargestellte Ergebnis als zufällig betrachtet werden muss. Aber zwischen dem Genauen und dem Zufälligen gibt es einen Bereich, in dem sich etwas ganz anderes zeigt, in dem sich Ordnung und Chaos quasiperiodisch abwechseln.

Dendrite

In der Natur gibt es viele Beispiele wie sich einzelne nicht-deterministische Vorgänge zu Formen zusammensetzen, die wiederum sehr determiniert erscheinen. Es wäre beispielsweise unmöglich, exakt das Wachstum eines Baumes zu berechnen oder zu modellieren, aber aus einer Buchecker wächst immer eine Buche, aus einem Lindensamen immer eine Linde - dies ist keineswegs dem Zufall überlassen. Jeder einzelne Entwicklungsschritt von einem Lindensamen zu einer ausgewachsenen Linde ist von so vielen Faktoren abhängig, dass er nur noch als zufällig beschrieben werden kann, der fertige Baum ist aber immer eine Linde - eine klar und eindeutig determinierte Form - von der es allerdings Variationen gibt. Dies ist ein Grundprinzip im Verhältnis zwischen dem Kleinen und dem Großen: Die zufälligen Bewegungen von Molekülen ergeben im Großen eindeutig bestimmbare Größen wie Temperatur oder Druck. Wirklichkeit besteht in einer hierarchischen Ordnung, angefangen von Ereignissen in den sogenannten Planck-Dimensionen, über Atome, kristalline Strukturen, Steine und Lebewesen, Sterne und Galxien bis hin zu den kosmologischen Strukturen des Universums und dem Universum selbst. Sie entschwindet in den ganz kleinen und den ganz großen Strukturen, weil diese randlos sind, aber sie wird fassbar und wahrnehmbar in den Zwischenbereichen - als Wirkung, als Bilder und Gestalten oder, wie es Platon ausdrückte, als Schatten, als Illusion. Wirklichkeit ist letzlich nur als Unwirkliches vorhanden - das ist das Dilemma der modernen Naturwissenschaften, insbesondere der Physik.

Seltsame Attraktoren

Anders als die Vergangenheit erscheint die Zukunft nicht als festgelegt. Kleine Änderungen können große Unterschiede in den Wirkungen nach sich ziehen. Die Zeit, die fälschlicher Weise gerne als eindimensional betrachtet wird, zeigt sich hier, in der Differenz von Vergangenheit und Zukunft, als mehrdimensional. Zu der linearen Dimension, die etwa von den Jahreszahlen gebildet wird, gehört die Dimension des Augenblicks, die eine fraktale Struktur besitzt, in der alles aufgehoben ist, was ein Augenblick beinhaltet - auch die Zeitlinie von Vergangenheit und Zukunft. Da aber Vergangenheit und Zukunft nicht gleich sind, hat die Zeit auch eine entropische Dimension, die ihr eine Richtung vorgibt. Diese entropische Dimension ist verknüpft mit einer zyklischen Dimension der Zeit. Dies kann im ersten Teil der Fraktalesammlung beobachtet werden: Wie zyklische Operationen Formen erzeugen, die nur in der Zeit entstehen können. Alles, dem eine Richtung gegeben ist, jeglicher Entwicklung und jeglicher Geschichte liegt diese Dualität von entropischer und zyklischer Zeitdimensionen zu Grunde. Genauso wie jeder Messbarkeit von Zeit, jeglicher Gesetzmäßigkeit von Ereignissen, die Dualität von linearer und damit quantifizierbarer Dimension der Zeit und ihrer fraktalen Dimension als Augenblick zu Grunde liegt.

Zelluläre Automaten

Die Dualität von Leben und Tod sind direkter Ausdruck der entropisch-zyklischen Dimensionen der Zeit. Entwicklung und Wachstum können nur in einer Welt bestehen, die sich von Zuständen hoher Ordnung in welche geringerer Ordnung verändern. Darin bestehen sie allerdings genau in dem Widerstand gegen diesen Fluss von Ordnung zu Chaos, als Inseln temporär wachsender Ordnung. Genau in dieser Dialektik wird Entropie erfahrbar: Ein Glas könnte nicht zerspringen, wenn es vorher nicht gebildet worden wäre. Den Ordnungen in einer entropischen Welt liegen Zyklen zu Grunde, Zyklen, die zum einen immer unwahrscheinlichere Strukturen ermöglichen und damit zu immer höherer Ordnung führen und zugleich auch - um dem zweiten thermodynamischen Hauptsatz Geltung zu verschaffen - Ordnung in Chaos überführen. Es ist ein Ineinandergreifen unzähliger verschiedener Zyklen, die alle sowohl Leben als auch Tod beinhalten, den Aufbau und den Abbau von Ordnung. Das menschliche Bewusstsein ist nicht nur Ausdruck dieser dualen Dimensionalität der Zeit. In ihm spiegelt sich diese Dualität in einer anderen, der von Erinnerung und Erleben des Augenblicks, von linearer und fraktaler Zeitdimension. Bewusstsein, so scheint es, ist unmittelbarer Ausdruck der Zeit in all ihren dimensionalen Aspekten.