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Hajo Seng

Lebenslinie Autismus Kontakt


Es gibt beliebig viele Perspektiven, eine Wirklichkeit zu erfassen. In Hinblick auf die Regeln, die diese Perspektiven quasi als Filter vorgeben, gibt es eine vermutlich begrenzte Zahl von "Typen", denen diese Perspektiven zugehören. Meine gehört eindeutig zu einem Typ, der durch Strukturen geprägt ist. Mein Zugang zu meiner Welt ist meine Biographie; sie ist zugleich Perspektive und Fluchtpunkt meiner eigenen Wahrnehmung und meines Denkens.

Meine Perspektiven sind von grundlegenden Auseinandersetzungen geprägt, die mein Leben durchziehen. Da ist an erster Stelle mein Autismus zu nennen, der meine Biographie seit meiner Kindheit bestimmt. So wie mein autistisches Anderssein für mich immer eine zentrale Auseinandersetzung gewesen ist - und immer noch ist, so ist mein autistisches Wahrnehmen eine wichtige Inspirationquelle in der Beschäftigung mit meiner Umwelt und auch für meine Wege, dieser Beschäftigung Ausdruck zu verleihen. Hierzu und zu meinem Engagement im Autismusbereich gibt es hier mehr. Ein weiterer Aspekt meiner Perspektive ist mein schwules Coming-out, das ich in den späten 1970er Jahren auf dem Land hatte. Dazu gehört auch, dass ich einen Großteil meines Lebens in einer Partnerschaft mit einem (nicht-autistischen) Mann lebe. Nicht zuletzt sind auch die anhaltenden Probleme mit meinem Immunsystem als wichtige Auseinandersetzung zu nennen, die ich seit meiner Kindheit habe. Darauf führe ich auch meine beiden Krebserkrankungen zurück, von denen eine einen direkten Bezug zu meinem Immunsystem hat, die andere zumindest einen indirekten.

Ich habe den Eindruck, dass die meisten Menschen mit einem linearen Zeitgefühl leben, in dem Erinnerungen mit zunehmender Zeit verblassen und überhaupt sich mühelos in eine Chronologie einordnen lassen. Meine Erinnerungen verblassen sehr schnell und der Grad ihrer Lebendigkeit hat wenig mit der Menge an Zeit zu tun, die seit den erinnerten Geschehnissen vergangen ist. Sie lassen sich nur sehr schwer in eine Chronologie einordnen; genau genommen ist eine solche Einordnung immer ein analytischer Kraftakt. Geschehnisse, die nur wenige Monat vergangen sind, haben diesselbe Qualität wie welche, die Jahrzehnte zurückliegen. Und meine Erinnerungen an sie sind immer auch recht abstrakt; sie unterscheiden sich in ihrer Qualität nicht von Erinnerungen anderer Menschen, von denen ich über Erzählungen oder Bücher erfahren habe. Es ist so, als würde sich der zeitliche Horizont meiner Wahrnehmung nur über wenige Monate erstrecken. Aus der Befürchtung, ich könnte eines Tages sterben mit dem Gefühl, nur wenige Monate gelebt zu haben, fing ich bereits in meiner Jugend an, mein Leben zu dokumentieren - um es nicht an die Indifferenz eines Erinnerungsvermögens zu verlieren, das seine Lebendigkeit in abstrakte Erfahrungswerte umwandelt. Diese Dokumentationen umfassen seither theoretische und belletristische Texte genauso wie Zeichungen und Malereien.