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Hajo Seng: Autismus

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Seit dem Herbst 1994 weiß ich, dass ich autistisch bin und dass mein Autistisch-Sein nicht nur ein zentraler, sondern der zentrale Aspekt in meinem Leben ist. Dieser Erkenntnis ging eine mehrjährige intensive Forschung voraus, die den Ausgangspunkt in der Erfahrung hatte, anders als alle anderen Menschen zu sein, die ich bis dahin kennen gelernt hatte; völlig anders, so sehr anders, dass ich nicht in der Lage war, dieses Anderssein zu benennen und darüber zu kommunizieren. Verdichtet hatte es sich in jenem Herbst durch die Erfahrung einerseits, dass ich mich als "sozial behindert" wahrgenommen habe, was mir bei meiner Arbeit mit behinderten Menschen in unterschiedlicher Weise widergespiegelt wurde. Andererseits durch meine starke Affinität zu Mathematik und in dieser Hinsicht komplexem Denken. Dazu kam noch die Erfahrung meines Weltenwechsels, den ich mit ca. 12 Jahren vollzogen hatte. Zuvor hatte ich in einer abgeschlossenen, unzusammenhängenden Welt gelebt, in der es auch keine Menschen gab, das heißt, ich Menschen als ebenso "artfremd" erlebt hatte wie Tiere. Danach fand ich mich in einer Welt voller Menschen und sozialer Anforderungen wieder, die ich nicht ansatzweise verstanden hatte. Ich war plötzlich einsam und isoliert, fühlte mich wie in einer Glasglocke, die mich von allen anderen abschirmte. Am Ende war und ist es diese Kombination, die "meinen" Autismus ausmacht: eine - wie auch immer geartete - soziale Behinderung und ungewöhnliche Begabungen in bestimmten Bereichen.

Anfangs konnte ich mit diesem Wissen nicht viel anfangen. Zu groß war der Unterschied zwischen mit mir und den damals gängigen Autismusvorstellungen, die ja im Wesentlichen von (nicht sprechenden) frühkindlichen Autisten geprägt war. Ich dachte eine ganze Zeit lang, dass solche "hochfunktionale" Varianten, wie ich sie offenbar verkörperte, extrem selten sein mussten, da ich nirgendwo darüber etwas erfahren hatte und auch selbst nur sehr selten mal jemanden traf, der oder die auch dazugehören könnte. Die, die ich traf, konnten alle mit dem Thema Autismus nichts anfangen. 1999 sah ich eine Dokumentation über Temple Grandin, die das Ganze bei mir zurecht rückte. Ich war gerade dabei, eine Psychotherapie zu beenden, in der ich gelernt hatte, mit meinem Autismus so umzugehen, dass ich in die Lage kam, ein wenigstens halbwegs "normales" Leben zu leben: Mit einem richtigen Job, Verhältnissen zu anderen, die nicht durch ständige Irritationen konterkariert wurden und vor allen Dingen ohne Depressionen. Das war vorher alles nicht gegeben. Ich nahm nach einer Weile Kontakt zu einer Internetcommunity von LBGT-Autisten auf und besuchte 2002 zum ersten Mal eine autistische Selbsthilfegruppe, die in Berlin. Ein Jahr später gründete ich eine Selbsthilfegruppe in Hamburg und beteiligte mich an der Gründung von Aspies e.V.. 2008 begann ich mit anderen autistischen Menschen das autWorker Projekt und begann dann immer mehr zum Thema Autismus zu verstehen. 2012 begann ich meine Dissertation "Annäherung an ein autistisches Erleben. Eine Collage" bei Professor Theunissen in Halle, die ich im Frühjahr 2019 fertigstellte.

Nach über zwei Jahren intensiver und zunehmender Erkrankung mit unklarer Symptomatik erhielt ich Ende 2013 eine Diagnose "Waldenströmsche Makroglobulinämie", eine chronische, leukämieähnliche Krebserkrankung. Diese Erkrankung war zu der Zeit schon fast bis zum finalen Stadium entwickelt; meine Werte befanden sich an der Spitze dessen, was überhaupt weltweit gemessen wurde. In der Folgezeit war ich etwa fünfeinhalb Jahre in ärztlicher Behandlung, davon ein halbes Jahr Chemotherapie, zweieinhalb Jahre Therapie mit monoklonalen Antikörpern und dann nochmal etwa drei Jahre wegen meinem defekten Immunsystem. Abgesehen davon habe ich mehr erreicht, als ich mir vorstellen konnte. Seit Anfang 1986 habe ich einen Beziehungspartner, mit dem ich inzwischen verheiratet bin; seit Sommer 2009 habe ich in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek einen Job, den ich sehr gerne verrichte. Hier habe ich mich auf das Thema suchmaschinenbasierte Kataloge spezialisiert und bin inzwischen in der Schwerbehindertenvertretung tätig. Durch meine Tätigkeit im Autismusbereich bin ich mit phantastischen Menschen umgeben und habe auch ein wunderbares Forschungsgebiet gefunden. Letzteres spiegelt sich auch in meinen Veröffentlichungen wider.

Meine Aktivitäten

Autistische Fähigkeiten
autSocial e.V. (Vorstand)
Aspies e.V. (Vorstand)
Wissenschaftlichen Gesellschaft Autismus Spektrum (Beirat für Aspies e.V.)