Denk- und Wahrnehmungsstile
Tanke- och perceptionsstilar

Körper, Geist und Welt / Kropp, sinne och värld

Horizont

Denkstile / Tankestilar | Sprache & Neurodiversität / Språk & neurodiversitet
Teil 1 / Del 1 | Literatur / Litteratur


Körper und Geist / Kropp och sinne

‚Wo Es war, soll Ich werden‘ […] Da, wo es gerade eben war, da, wo es um ein Haar war, zwischen diesem Erlöschen, das noch leuchtet, und diesem Anbrechen, das stockt, kann Ich zum Sein kommen durch Verschwinden aus meinem Gesagten. Ein Aussagen, das sich verrät; ein Ausgesagtes, das sich zurücknimmt; eine Unwissenheit, die sich zerstreut; eine Gelegenheit, die verloren geht – was ist es, was hier bleibt, wenn nicht die Spur dessen, was unbedingt sein muss, um aus dem Sein herauszufallen?

Jacques Lacan

Sprachliches Denken vereinigt also die grundlegenden Strukturen von Hören und Sehen (auditiver und visueller Wahrnehmungsverarbeitung) unter dem Primat des Sehens. Eine solche Vereinigung ist aber immer brüchig, nicht nur weil sich Sehen und Hören nicht aufeinander abbilden lassen, sondern beide Wahrnehmungsverarbeitungen in sich aus Aspekten bestehen, die sich nicht aufeinander abbilden lassen. Dieser Umstand wird in der Mathematik in den Unvollständigkeitssätzen Kurt Gödels aufgezeigt.

Mit dieser Vereinigung aber entsteht erst so etwas wie ein eigener Körper und damit auch ein Ich oder Selbst als etwas jeweils ganzes. Die visuelle Wahrnehmung, die ein Heraustreten aus der Welt und damit eine Betrachtung von außen ermöglicht verbindet sich dabei mit der auditiven, die eng auch mit dem Fühlen, dem Spüren des eigenen Körpers, aber auch den eigenen Gefühlen und den Erinnerungen verbunden ist. Jacques Lacan stellt diese Vereinigung in einem besonderen Spiegel dar:

”Där det var, skall jag bli” […] Där det var nyss, där det var med en hårsmån, mellan denna släckning, som fortfarande lyser, och denna gryning, som vacklar, kan Jag bli till genom att försvinna från det jag har sagt. Ett uttalande som som förråder sig själv; ett yttrande som drar sig tillbaka; en okunnighet som skingras; en möjlighet som går förlorad – vad är det som finns kvar här om inte spåret av det, vad måste nödvändigtvis vara för att falla ur varat?

Jacques Lacan

Wirklichwerdung im Spiegel: Was eigentlich getrennt ist, Blumenstrauß und Vase, wird durch diese Spiegelkonstruktion vereint.

Ein Aspekt, den ich bislang ausgelassen habe, ist der, dass Sprache nicht nur eine grundlegende Struktur der Wirklichkeit bietet, sondern auch ein Kommunikationsmittel ist. Der Spiegel ist also auch einer, der dem sprachlich konstituiertem Ich seinen Körper zeigt, nämlich im Körper des anderen. Der drückt sein „Du bist wie ich (etwas ganzes)“ dadurch aus, in dem er auf das Mich so reagiert wie das Ich auf ihn. Entscheidend ist hierbei, dass diese Reaktion in Wirklichkeit eine Nicht-Reaktion ist, das Ausbleiben einer Ablehnung („Was bist du denn? Du bist nicht wie ich/wir“). Dieses Ausbleiben lässt den Schluss auf das eigene Ganz-Sein in einer Logik zu, die Zeit benötigt, um vollzogen zu werden: eine Zeit, in der die ausgebliebene Reaktion hätte stattfinden können, ja müssen. Es ist die Zeit des Schließens auf die eigene Ganzheit, wie sie sich im Körper der oder des Anderen darstellt, die Zeit, die notwendig ist, um einen Augenblick erlebbar und damit wirklich werden zu lassen. Eine solche Erfahrung muss immer wieder reproduziert werden; sie erzeugt dann ein Kontinuum, das als Zeit erfahren wird.

Die Sprache ist als symbolische Ordnung, wie es bei Jacques Lacan heißt, die Verbindung zwischen einem kontinuierlichen und fundierten Bild der Welt, der imaginären Ordnung, und dem eigentlich inkonsistentem fragmentierten Körper, der realen Ordnung. Den ordnet sie dem Bild unter. In der Bewegung vom Bild, also der imaginären Ordnung, wie sie etwa in Träumen zum Vorschein kommt, zur symbolischen Ordnung, der Struktur der Sprache, verwirklicht sich das Bewusstsein, das aber losgelöst vom Realen, also dem Körper und der Welt, wie sie eigentlich erlebt werden, ganz und gar unwirklich bleibt – und deshalb immer wieder von neuem hergestellt werden muss. Davon abgetrennt wird diese Wirklichkeit im Unbewussten wirksam. Sie zeigt sich dort in einer Dynamik von der realen Ordnung zum Bild.

Diese Dynamiken sind auch schon in der Sprache angelegt: So sind die Mengen in der klassischen Mathematik durch das Fundierungsaxiom abgeschlossen, während das Auswahlaxiom den Übergang von endlichen oder zumindest abzählbaren Strukturen zu einem Kontinuum, einem Abschluss quasi absichert. In der dazu komplementären, nicht-fundierten Form sind die als Objekte gedachten Strukturen offen, die durch die Endlichkeitsforderung möglichen Unendlichkeiten fraktal.

(Abschluss <-> Kontinuum) <-> (Umkehrung <-> Endlichkeit)

(Objekt <-> Abschluss) <-> (Struktur <-> Umkehrung)

Diese Struktur der Welt und des Selbst ist ja wie oben erwähnt an die Schriftsprache gebunden. In einer Kultur, die in einer mündlichen Überlieferung lebt, wird sie sich anders darstellen. Die Philosophie Platons, insbesondere seine Lehre, dass es Ideen gibt, die dem Wirklichen zugrunde liegen und die direkt nicht wahrnehmbar sind, steht geradezu für diese schriftsprachliche Struktur von Welt und Selbst. Vielleicht leben wir jetzt in einer Zeit, in der diese Struktur zugunsten einer anderen gerade überwunden wird, einer Zeit der Umkehrung.

Als Kind habe ich in einer Welt gelebt, die sich von außen als sehr abgeschlossen zeigte, vor allen Dingen anderen Menschen gegenüber. Von innen war sie genau das Gegenteil davon, absolut offen: Ich war direkt mit der Welt, dem Kosmos und seinen Wesen verbunden. Im Alter von zwölf Jahren wechselte ich in die sprachlich geprägte Welt der Menschen. Von außen betrachtet wirkte ich wesentlich offener, von innen fühlte ich mich absolut abgeschlossen, wie im Innern einer Glaskugel.

Doch was verursachte diesen Wechsel? Es war ein Klassenkamerad, Mathias, wie ich jetzt weiß. Er erschien plötzlich als der erste Mensch überhaupt in meiner abgeschlossenen und bedingungslos offenen Welt. Als er plötzlich da war, dachte ich, „Er ist wie ich – ich bin wie er“. Er stotterte und, nachdem ich mit ihm 46 Jahre später Kontakt aufgenommen hatte, erfuhr ich, dass er dadurch mit der Sprache, dem sprachlichen Sein, ähnliche Probleme hatte wie ich. Seine Auseinandersetzung mit seinem Stottern hat erstaunliche Parallelen zu meinem mit meinem Autismus. Und auch er war und ist direkt mit der Welt verbunden und lebt wie ich in einem Selbst, das keineswegs auf seinen Körper beschränkt ist. Es sperrt sich dagegen, Objekt zu werden.

Mathias trug gerne Hemden mit einem Rollkragenpullover darunter. Das war damals „verkehrt herum“, weil Pullover über Hemden getragen wurden. Für mich war es das Zeichen für eine Umkehrung und den Übergang in seine Welt.

In der neuen Welt nach dem Weltenwechsel blieb ich immer Fremd. Ich sehnte mich nach der abgeschlossenen Heimatwelt meiner Kindheit: Dafür steht die über die Mütze gezogene Kapuze.

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Struktur der Welt / Världens Struktur

Die Sprache als ein System von Verweisen hat sich nun sicher nicht aus dem Nichts entwickelt, um der Welt der Menschen eine Sinnstruktur vorzugeben. Wie die Mathematik scheint sie eine Struktur darzustellen, die in der physikalischen Welt bereits vorhanden ist. Das gilt vor allen Dingen auch für eines ihrer Grundelemente, dem Symbol. Der physikalischen Welt muss die Möglichkeit innewohnen, etwas durch etwas anderes, einem Zeichen oder einem Symbol, zu repräsentieren, sozusagen „in die Zeit zu bringen“ und damit zu verwirklichen. Dabei stellt sich die Frage, was unter einem Symbol genau zu verstehen ist und was das Potenzial hat, zu einem Symbol zu werden.

Das „om“ kann so ausgesprochen, also als ein Laut dargestellt, werden, der nicht nur hörbar ist, sondern auch mit dem ganzen Körper gespürt werden. Zugleich ist es als Schriftzeichen ein Symbol.

Ein Symbol aber wofür? Worauf verweist die Silbe „om“, das Wort „Vogel“, der Name „Hajo“? Nach Jacques Lacan und Ferdinand de Saussure erst einmal auf nichts, auf etwas, was es zunächst nicht gibt, wie „den Vogel“, etwas, was durch den Verweis und das Symbol erst entsteht. Ich habe mich über viele Jahre hinweg mit diesem Gedanken beschäftigt und bin zum Ergebnis gekommen, dass er unausweichlich ist. Was – sozusagen „konkret“ – mit dem Symbol entsteht ist das Objekt, da ja, wie ich es versucht habe darzulegen, eine spezielle Perspektive voraussetzt, die von außen. Im Grunde genommen ist ein Objekt genau so eine Perspektive, das heißt, eine Wahrnehmung wird durch diese Perspektive von außen und damit verbunden die damit verbundene Distanz zum Objekt. Diese Distanz ist ja etwas, was erst durch die visuelle Wahrnehmung entsteht und ausschließlich darin besteht; in der auditiven Wahrnehmung besteht sie nicht.

Auch wenn diese „objektive“ Perspektive eine außerweltliche und damit vollkommen unwirkliche – unwirksame – ist, ist sie offensichtlich Teil der Welt; niemand könnte sie sonst einnehmen. Auch der Gedanke ist unvermeidlich, dass die Bildung von Symbolen und damit auch Verwirklichungen durch Verweise nicht nur Teil der Welt sind, sondern auch elementar zur physikalischen Realität gehören. Ich bin davon überzeugt, dass die modernen Grundlagentheorien der Physik und auch der Mathematik vor dem Hintergrund dieser fundamentalen Eigenschaft der Welt neu gedacht werden müssen, insbesondere auch die Quantenfeldtheorie und ihre Nachfolger und Verwandten. Wahrnehmen hängt direkt mit der Bildung von Verweisen durch Symbole zusammen; sie besteht aus so einem Verweisen. Die Welt, in der wir leben, ist eine, die nicht nur in der Lage ist, wahrzunehmen, sondern die weitgehend durch dieses Vermögen charakterisiert ist.

Frank Fiedeler zeigt in „Die Monde des I Ging“ in welch komplexer Weise das System Sonne – Mond dieses symbolische Vermögen zeigt, nicht zuletzt dadurch, dass beide fast die gleiche relative Größe am Himmel haben. Dabei verweist der Mond immer auf die Sonne, von der er ja angestrahlt wird, und zwar auf eine so vielschichtige Weise, dass Philosophen im antiken Griechenland die räumliche Struktur des Sonnensystems daraus ableiten konnten. Zusammen mit „Die innere Struktur des I Ging“ von Lama Anagarika Govinda ist es eine spannende Lektüre, die zeigt, wie sich eine symbolische Struktur oder Ordnung zwischen Phänomenen und ihrer Wahrnehmung legt und damit beide – auf eine spezifische Weise – zusammenbringt. Siehe dazu auch I Ging (Hajo Seng).

Eine andere Form des Verweises als der Transformation von Hören und Sehen, ist hier auf Chladni-Platten zu sehen und zu hören; spannend als Verbindung von Kultur und Natur umgesetzt:
En annan form av referens än omvandlingen av hörsel och syn kan ses och höras här på Chladniplattor; spännande realiserat som en koppling mellan kultur och natur:

Chadni-Platten / Chadniplattor

Zum Schluss dieser Überlegungen möchte ich noch darauf eingehen, wie die Welt und die Wirklichkeit im Lichte der modernen physikalischen Grundlagentheorien erscheinen. Das sind insbesondere die Relativitäts- und die Quantentheorie. Die Welt, die diese Theorien beschreiben, unterscheidet sich radikal von der, die uns die Sinne vermitteln, Sehen, Hören, Fühlen und auch Riechen. Dass ich hier auf das Riechen nicht eingegangen bin, hat damit zu tun, dass dies noch ein zusätzliches Thema eröffnen würde, ohne viel zum Verständnis meiner grundlegenden Überlegungen beizutragen.

Gemäß dieser Theorien sind Raum, Zeit, Materie und Energie Aspekte ein- und desselben Phänomens. Sie stehen in einem zweifach komplementären Verhältnis zueinander:

((Raum <-> Zeit) <-> (Materie <-> Energie)) <-> ((Raum <-> Materie) <-> (Zeit <-> Energie))

Dabei wird die Materie von Teilchen repräsentiert, die sich in der Raumzeit verwirklichen (und eine 4-dimensionale Symmetrie aufweisen), den Fermionen, während die Träger der Energie, die Bosonen, sich nur im Raum verwirklichen. Anders als die Fermionen können sich Bosonen beliebig dicht im Raum befinden. Für Fermionen gilt das Pauli’sche Ausschlussprinzip, dass das verhindert; sie benötigen Raum.

Beide Aspekte, Materie und Energie sind durch die Unschärferelation miteinander verbunden. Sie bildet einen Widerstand für die Transformation der beiden Aspekte ineinander. Es ist der Widerstand, den eine Umkehrung, hier von geschlossener Form (Materie) zu einer offenen (Energie) und umgekehrt erzeugt. Energie und Zeit oder Materie und Raum stehen nicht in einem Verhältnis der Umkehrung zueinander. Vielmehr bildet die Materie den Abschluss des Raums (der ohne Materie gar nicht wirklich sein könnte) und die Energie mit ihrem vordergründig wellenartigem Charakter den der Zeit. Das komplementäre Verhältnis von Materie und Raum wird in Fermionen, das von Energie und Zeit von Bosonen vermittelt. Es ergeben sich damit folgende Diagramme:

Umkehrung: (Raum <-> Zeit) <-> (Materie <-> Energie)

Abschluss: (Raum -> Materie) <-> (Zeit -> Energie)

Mit dem Quantenfeld versucht die Quantenfeldtheorie einen Begriff einzuführen, der die klassischen physikalischen Größen, insbesondere auch Materie und Energie, abstrahiert und als Erscheinungsformen ein und desselben Quantenfelds zu verstehen. Das Feld bildet damit einen Abschluss der Welt oder des Kosmos, während Materie und Energie, sowie Raum und Zeit, jeweils als Ausdruck von Umkehrungen in Erscheinung treten.

Die menschliche Wahrnehmung ist offensichtlich nicht darauf ausgelegt, eine Wirklichkeit zu zeigen, wie sie wirklich ist. Sie zeigt vielmehr eine Wirklichkeit, die für das Überleben der Menschen praktisch ist. Ich denke, dass einer Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, Umkehrung (als Überwindung eines komplementären Verhältnisses) und Abschluss (als Vereinigung eines solchen Verhältnisses zu einem Ganzen) zugrunde liegt. Da eine Umkehrung mit einem Widerstand und ein Abschluss mit einer „Anziehungskraft“ verbunden ist, entsteht aus dieser Konstellation eine Dynamik, die nicht zuletzt auch dazu führt, dass diese Wirklichkeit danach strebt, sich selbst zu erkennen. In der modernen Physik wird die ständige Zunahme der Entropie geschlossener Systeme mit ihrem beständigen Verlust an Information verbunden. In offenen Systemen bedeutet ein Verlust an Information immer auch eine Aggregation von Informationen, die Bildung komplexer Strukturen – wie etwa in einem Fraktal. Es ist also der entropische Aspekt der Zeit, der zugleich auch ihr evolutionärer Aspekt ist, der die Selbsterkenntnis der Welt ermöglicht, die sich unter anderem auch im menschlichen Denken vollzieht.

Zum Schluss noch folgendes Schema, in dem der Augenblick als Komplementarität von Ewigkeit und Zeitlosigkeit dargestellt ist:

Umkehrunginnen und außen nicht unterscheidbar
Widerstand
(ewig <-> zeitlos) -> (zyklisch <-> (entropisch <-> evolutionär))
Umkehrung -> (von außen) -> Abschluss
Abschlussinnen und außen getrennt
Anziehung
(entropisch <-> evolutionär) -> ((ewig <-> zeitlos) <-> kontinuierlich)
Abschluss -> (von innen) -> Umkehrung

Die Welt wird durch den Geist vermittelt: Sie lässt sich erkennen, indem wir in die Weiten des Weltalls blicken oder auch in uns selbst. In dieser Hinsicht ist die Mathematik beides, Natur- und Geisteswissenschaft.

Verleihet mir, schön zu werden im Innern, was ich aber von außen her habe, dass es dem Inneren befreundet sei!

Sokrates im Phaidros

Gör mig vacker på insidan, men vad jag har på utsidan, att det kan vara en vän till insidan!

Sokrates i Phaidros

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