Denk- und Wahrnehmungsstile
Tanke- och perceptionsstilar

Mathematik & Psychologie / Matematik & psykologi

Horizont

Denkstile / Tankestilar | Sprache & Neurodiversität / Språk & neurodiversitet
Teil 2 / Del 2 | Literatur / Litteratur


Auf den ersten Blick scheinen Mathematik und Psychologie nicht so viel miteinander zu tun zu haben. Doch das täuscht: Beide haben gemeinsam, dass es ihnen um Sprache geht. Die Mathematik, weil sie nichts anderes ist als eine abstrahierte Sprache, die ungeachtet jeglicher Bedeutungen sprachliche Strukturen einer „exakten“ Analyse erschließt. Die Psychologie, weil die menschliche Psyche wie Sprache organisiert ist, insbesondere auch bei psychischen Erkrankungen. Beide Wege, sich der Sprache anzunähern, sind in sofern universell, dass sie von keiner konkreten Sprache ausgehen. Sie greifen vielmehr auf, was allen Sprachen und dem sprachlichen Denken gemeinsam ist. Die Mathematik ist demnach die Wissenschaft, die der Struktur der menschlichen Psyche erforscht.

Der kulturelle Gegenpart zur Mathematik stellt wohl der Zen-Buddhismus mit einen Koans dar. Die Koans führen an die Grenzen der Sprache und laden dazu ein, sie zu überschreiten; ein Unterfangen, das scheinbar vielen Menschen schwer fällt und ihnen teilweise jahrelange Meditationsübungen abverlangt. Für mich ist es schon immer leicht gewesen, mich gedanklich jenseits der Sprache zu begeben, es geschieht oft von selbst, denn dieses „jenseits der Sprache“ ist die Heimat meines Denkens.

Kaiser Wu von Liang forderte den Bodhisattva Fu auf, ihm das Diamantsutra vorzulesen.
Der Bodhisattva Fu nahm also auf seinem Sitze Platz. Dann tat er einen schwungvollen Hieb auf das Pult, vor dem er saß, und stieg von seinem Sitz wieder herab.
Der Kaiser Wu war vor Erstaunen sprachlos.
Der edle Dschi fragte den Kaiser: Majestät haben es doch verstanden?
Der Kaiser erwiderte: Ich verstehe es nicht.
Der edle Dschi sagte: Der Großmeister hat das Sutra ganz zu Ende gelesen.

67. Koan aus dem Bi-Yän-Lu

Kejsar Wu av Liang bad Bodhisattva Fu att läsa Diamant Sutra för honom.
Bodhisattva Fu satte sig ner på sin plats. Han slog sedan med ett svängande slag i katedern framför vilken han satt och steg ner från sin plats.
Kejsar Wu var mållös av förvåning.
Den ädle Ji frågade kejsaren: Ers Majestät förstod, gjorde ni inte det?
Kejsaren svarade: Jag förstår inte.
Den ädle Ji sade: Stormästaren har läst sutran till slutet.

67:e koan från Bi-Yän-Lu

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Sehen / Seende

Die westliche Mathematik hat ihren Ursprung in der Geometrie der griechischen Antike. Ein herausragendes Dokument ist das Werk „Elemente“ von Euklid. Darin wird der Raum derartig abstrahiert und formalisiert, dass er rein formal, also mittels sprachlicher Strukturen gefasst werden kann, ohne dass dafür eine Anschauung nötig wäre. Es ist der „Euklidische Raum“. Dieser Raum ist ein von außen betrachteter Raum, was etwas widersinnig ist, denn was soll denn ein „Außerhalb des Raumes“ sein? Der Trick, der das in der Antike plausibel machte, war, die Perspektive der Götter einzunehmen, die sich ja jenseits dieser Welt befanden.

Erst im Kontext der neuzeitlichen perspektivischen Malerei entwickelte sich in der Mathematik die Idee eines Raums, der grundsätzlich nur von innen, aus einer Perspektive heraus, betrachtet werden kann, so wie das Möbiusband, das nur eine Seite hat, sodass hier innen und außen nicht unterschieden werden können.

Diese „projektiven Räume“ stehen mit den „affinen“, der Verallgemeinerung des Euklidischen Raums, in einem komplementären Verhältnis, so wie Objekt und Struktur in der visuellen Wahrnehmung.

Das Universum kann grundsätzlich nur von innen betrachtet werden, wie ein schwarzes Loch nur von außen betrachtet werden kann (links im Zentrum von Messier 87). Die jeweils anderen Perspektiven sind unmöglich und beruhen auf der Annahme, eine Perspektive jenseits der Welt einnehmen zu können.

3K Backgroundradiation

Die 3K-Hintergrundstrahlung zeigt den Horizont des Universums für elektromagnetische Strahlung.
3K-bakgrundsstrålningen visar universums horisont för elektromagnetisk strålning.

Das Individuum („Unteilbare“) kann grundsätzlich nur von innen oder von außen wahrgenommen werden. Beide Perspektiven aufeinander zu beziehen oder gar miteinander zu identifizieren bedarf einer Perspektive von außerhalb der Welt. Eine solche Perspektive vermittelt die Sprache, insbesondere die Schriftsprache, die in der Lage ist, durch Abstraktion der Anschauung eine solche Perspektive formal, als Konzept, zu vermitteln. Das erinnert sehr an die beiden „Selbste“, von denen Temple Grandin schreibt: Das „thinking-self“ als Innen- und das „acting-self“ als Außenperspektive. Die Art und Weise, wie ein Mensch in der Sprache wohnt, entspricht seinen Möglichkeiten, beide „selfs“ aufeinander zu beziehen, oder sie gar als identisch zu erleben. Autistische Menschen erleben hier eher eine mehr oder minder tiefe Kluft zwischen beidem, die nicht selten mit dem Gefühl beschrieben wird, wie unter einer Glasglocke zu leben.

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Hören / Hörsel

Die visuelle Wahrnehmungsverarbeitung erscheint in vielerlei Hinsicht wie ein Wunder. Insbesondere die Kunst, flächige, zweidimensionale Eindrücke als einen dreidimensionalen Raum erscheinen zu lassen, verblüfft mich umso mehr, je öfter ich darüber nachdenke. Damit zerfällt das Gesehene, die visuell wahrgenommene Wirklichkeit, in zwei Aspekte, die miteinander nicht vereinbar sind aber dennoch zusammengehören: den eines affinen und den eines projektiven Raumes.

Das Hören ist mit zwei solchen komplementären Paaren verbunden: Ton und Melodie, sowie Rhythmus und Klang. Anders als beim Sehen benötigen alle diese Aspekte Zeit, um sich zu entwickeln: Ein Ton mindestens die seiner Frequenz; er wird umso präziser, je länger er klingt. Ein Klang als ein Zusammenwirken verschiedener Töne benötigt dagegen deutlich mehr Zeit und muss in der Regel ausklingen, bevor er komplett realisiert ist. Der Rhythmus ist die pure Zeit; der ihm zugrunde liegende Klang spielt eine nur hintergründige Rolle. Insbesondere sind auch Klang und Rhythmus eng mit dem Körper verbunden, denn sie werden nicht nur von den Ohren gehört, sondern auch gespürt. Ein eindrückliches Beispiel dafür gibt die gehörlose Perkussionistin Evelyn Glennie.

Feeling Sound with Evelyn Glennie

Eine Melodie aus einzelnen Tönen ist geradezu ein Sinnbild für eine Vorstellung der Zeit als linear, wobei ein einzelner Ton einem „aus der Zeit gefallenen“ Augenblick entspricht. In seiner Dauer ist er potenziell ewig, kann aber nicht beliebig kurz werden. Um seine Frequenz (f) bestimmen und auch hören zu können, muss er mindestens so lange klingen, wie der reziproke Wert der Frequenz (1/f). Der Übergang von einem einfachen Ton zu einer Melodie bedeutet dabei einen Eintritt in eine (wenn auch lineare) Zeit der Veränderung oder Entwicklung. Ähnlich verhält es sich mit dem Übergang von einem Klang zu einem Rhythmus. Allerdings kommen hier weitere Aspekte oder Dimensionen zum Tragen, die nicht in einem linearen Zeitmodell zu finden sind. Ein Rhythmus besteht in der Wiederholung, und zwar in einer, die sich deutlich von der Frequenz eines Tones unterscheidet. Ein Klang benötigt zwingend Zeit, um sich zu entwickeln, und auch hier eine Zeit, nicht der linearen Entwicklung einer Melodie entspricht. Anders als Melodien, von denen man beliebige Ausschnitte hören kann, lässt sich ein Klang nicht ausschnittweise hören. Klänge haben in der Regel auch keine erkennbaren Enden, sondern können beliebig lange ausklingen. Damit ergeben sich folgende Relationen:

(Ton -> Melodie ) <-> (Rhythmus <- Klang)

(Wiederholung (Körper): Ton <-> Rhythmus) <-> (Entwicklung (Ohr): Melodie <-> Klang)

Sowohl die visuelle als auch die auditive Wahrnehmung erzeugen kein konsistentes Abbild einer Wirklichkeit. Ihre Wirklichkeit besteht aus komplementären Aspekten, die zu etwas konsistentem zusammengesetzt und interpretiert werden müssen, um zu einer sinnhaften Wirklichkeit werden zu können. Genau hier setzen die verschiedenen Denkstile an, indem sie diese Aspekte auf unterschiedliche Weise auffassen und interpretieren.

Beim Hören geht es um Zeit und in der Physik ist die Zeit als etwas konzipiert, was gleichmäßig und linear verläuft, also die Dimension 1 hat. Auch in der vormodernen Mathematik kommt die Zeit als die schrittweise Transformationen vor, aus denen ein Beweis besteht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die Idee durchgesetzt, dass die Mathematik aus nichts anderem besteht als sukzessiven Transformationen von Zeichenketten. Mit den abstrakten Maschinen, deren Entwicklung mit Alan Turing verbunden ist, entstand dabei die Vision einer Mathematik, die nur von Computern betrieben wird. Allerdings hat bereits in den 1930er Jahren Kurt Gödel bewiesen, dass eine solche Mathematik nicht vollständig ist und ihre Widerspruchsfreiheit nicht beweisen kann.

Alle drei hier genannten Persönlichkeiten, Evelyn Glennie, Alan Turing und Kurt Gödel, können durchaus als neurodivergent gelten; siehe Sprache und Neurodiversität.

Doch mit den Computern tauchte in der Mathematik ein Phänomen auf, das nicht in dieses Konzept der Zeit passt: Fraktale. Sie entstehen durch die Wiederholung von einfachen Rechenoperationen und zeigen eine Komplexität, die nicht mehr geschlossen berechnet werden kann, ohne die wiederholten Rechenschritte einer nach dem anderen durchzuführen. Sie haben keinen Rand und eine nicht-ganzzahlige Dimension. Damit sind sie keine Objekte. Da sie sich in der Zeit entwickeln verbinden sie einen zirkulären Zeitaspekt, die wiederholte Durchführung einer Rechenoperation, mit einem entropischen und damit auch evolutionären, das sie die Zeit benötigen, um sich zu entwickeln.

Die Zeit in der Mathematik zeigt als zwei Paare von einander komplementären Aspekten: die lineare Zeit und der Augenblick, sowie die zyklische und die entropische Zeit.

Raumaffinvon außen betrachtet
drei Dimensionen
innen und außen getrennt
Objekte und Gegenstände
projektivvon innen betrachtet
flach, zweidimensional
innen und außen nicht unterschieden
Wirkungen und Strukturen
Zeitlinearin der Zeit
wie eine räumliche Dimension konzipiert
gleichmäßige Schwingung
Augenblickjenseits der Zeit
vielschichtig, beliebig viele Dimensionen
Klang
zyklischunveränderlich
dimensionslos
Wiederholung, Rhythmus
entropischbeständige Veränderung
nicht-ganzzahlige Dimension
Entwicklung, Entropie
Feeling Sound with Evelyn Glennie

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Sprache / Språk

Sprache kann heute nur noch als Schriftsprache gedacht werden. Sich vorzustellen, wie Menschen in vorschriftlicher Zeit in ihrer Sprache lebten, wird wohl kaum möglich sein. Vor allen Dingen funktionierte sie als Gedächtnis völlig anders. Die Überlieferungen wurden in ständiger Wiederholung weitergegeben und veränderten sich dabei von Generation zu Generation. Sprache war mit dem Hören verbunden, die äußere, begriffliche Welt war unmittelbar mit der flüchtigen inneren Welt der Gefühle verbunden; und mit dem Körper.

Hören und Körper im Obertongesang / Hörsel och kropp i övertonssång

Anders als in der vorschriftlichen Zeit, die mit der Komplementarität von zyklisch und entropisch (oder evolutionär) beschrieben werden kann, befindet sich die Sprache in der schriftsprachlichen Zeit in der von einem gleichmäßigen, linearen Zeitfluss und dem Augenblick. Der Augenblick ist dabei etwas jenseits der Zeit, im Grunde eine Art Ewigkeit. Er ist die Zeit der Eingebung, etwa in Hinblick auf ein mathematisches Problem: In ihm transformieren sich die Zeichen, der Darstellung des Problems, in das, was sie repräsentieren und was ohne sie gar nicht existiert. Es gehört zu den Wundern der Schriftsprache, dass sie etwas entstehen lassen kann, was es ohne sie gar nicht gibt. Der Umstand, dass es in allen Kulturen magische Formeln oder magische Zeichen gibt, Formeln und Zeichen also, die auf wundersame, unverstandene Weise etwas bewirken können, zeigt, wie sehr die Menschen von der Macht der Sprache beindruckt waren, in der sie lebten. Eine Macht, die sich dann ganz besonders entfalten kann, wenn dabei Sehen und Hören, geschriebenes und gesprochenes Wort, zusammenkommen und ein Ganzes bilden.

Die Mathematik hat nicht nur eine sprachliche Struktur, sie kann auch Sprachen modellieren. Diese Modelle heißen „formale Sprachen“ und liegen etwa Programmiersprachen zugrunde. Es lässt sich zeigen, dass formale Sprachen, die eine sinnvolle, das heißt, in sich konsistente Struktur haben, sich eineindeutig auf unendliche iterierte Funktionensysteme abbilden lassen. Sie haben eine fraktale Struktur. Insbesondere bedeutet das, dass Sprachen zwar endlich sind, aber gewissermaßen ins Unendliche streben. Sie sind beliebig, also unendlich erweiterbar und haben keinen Rand und damit keine Grenze. Das lässt sich an einem Sierpinski-Dreieck veranschaulichen: Das Objekt verschwindet mit der Zeit in der Struktur.

Mit ihrer fraktalen Struktur befindet sich die Mathematik wie die Sprache in einer Zeit, die durch die Komplementarität von zyklisch und entropisch charakterisiert ist. Wie Sprache modelliert sich die klassische Mathematik gemäß ihres Ursprungs in der Geometrie dagegen in einer linearen Zeit. Eine solche Zeit hat keine Lücken, sie ist ein Kontinuum, wie etwa die reellen Zahlen. Damit ist die Zeit der klassischen Mathematik durch die Komplementarität von Kontinuum und Punkt (oder Augenblick) charakterisiert. Ihre Grundbausteine sind im allgemeinen Fall, wie es die moderne Mathematik darlegt, Mengen, die durch die Elementbeziehung miteinander verknüpft sind. Auf dieser Grundlage lässt sich die gesamte Mathematik darstellen. Es gibt aber eine dazu komplementäre Darstellung, die durch Graphen realisiert wird, die aus durch Adjazenz („Aneinanderhaften“) verknüpften Knoten oder Ecken bestehen.

Mengen sind durch die Elementbeziehung miteinander verbunden; Ihre Elemente sind wiederum Mengen.

Graphen bestehen aus Knoten, die durch die Nachbarschaftsbeziehung (Adjazenz) miteinander verbunden sind.

Die Mengen sind dabei die Abstraktion von Objekten, während die Graphen Strukturen im Allgemeinen darstellen. Damit die Menge eine widerspruchsfreie Grundstruktur in der Mathematik bilden kann, muss sie durch ein Axiomensystem entsprechend definiert werden. In der modernen Mathematik ist es das „Zermelo-Fränkel“-System mit Auswahlaxiom, kurz ZFC (C steht für „Axiom of Choice“). Damit die Elementbeziehung nicht in sich widersprüchlich wird, gibt es das Fundierungsaxiom, das besagt, dass in einer Menge von Mengen keine zirkulären Elementbeziehungen auftreten, insbesondere auch keine Menge sich selbst enthält. Das Auswahlaxiom besagt, dass ungeachtet unendlicher Größen es immer möglich ist, Mengen zu repräsentieren, etwa durch eines ihrer Elemente. Damit ist jedes Kontinuum der Mathematik zugänglich.

Doch auch für Graphen lässt sich ein Axiomensystem formulieren, das analog dem ZFC aufgebaut ist. Die Graphen sind dann ebenfalls als Mengen modelliert, Mengen, die allerdings anders funktionieren. Denn gibt es hier kein Fundierungsaxiom, sondern ein Axiom, das nicht fundierte Strukturen ausdrücklich zulässt, und statt dem Auswahlaxiom eines, das besagt, dass jede Menge aus endlich vielen Elementen besteht, die wiederum aus endlich vielen Elementen bestehen. Das nennt sich „erblich endlich“.

Insgesamt zeigt die Mathematik also folgende Struktur:

(Algorithmus <-> Fraktal) <-> (Punkt <-> Kontinuum)

Dabei befindet sich das Kontinuum in einer Komplementarität von affin (von außen betrachtet) und projektiv (aus einer Perspektive von innen betrachtet):

(Algorithmus <-> Fraktal) <-> (Punkt <-> (affin <-> projektiv))

Das ist auch die grundlegende Struktur von Sprache, bzw. einer sprachlichen Wirklichkeit oder einer Wirklichkeit, die durch ein sprachliches Denken vermittelt wird. Durch das Fundierungsaxiom und das Auswahlaxiom werden grundlegende Eigenschaften dieser einander komplementären Aspekte erkennbar:

Fundierung: innen und außen unterschieden <-> innen und außen identisch

Auswahl: kontinuierlich <-> körnig (fraktal)

Auf diese Weise vermag das sprachliche Denken ein in sich unzusammenhängendes, fraktales Erleben der Wirklichkeit in ein Ganzes zu transformieren, in eine Welt. Sie drängt die Wahrnehmung in dieses Ganze; der Buchstabe oder die Silbe wird dabei zum Prototypen eines Objekts.

Teil 2: Körper, Geist und Welt / Del 2: Kropp, sinne och värld

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