Denk- und Wahrnehmungsstile
Tanke- och perceptionsstilar

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Der Buddhismus lehrt uns, dass die Wirklichkeit, die Welt, in der wir leben, durch den Geist vermittelt wird. Jaques Lacan zeigt auf, dass Menschen in der Sprache wohnen, die Sprache – gemäß Ludwig Wittgenstein – ihre Welt bildet. Doch Menschen wohnen recht unterschiedlich in der Sprache: Für die einen ist sie ein Palast, in dem sie sich behaglich eingerichtet haben, für die anderen lediglich ein Schlafplatz auf dem Gehweg vor einem Einkaufscenter. Anders als viele westliche Philosophien implizit oder explizit unterstellen, fallen Denken und Sprache, bzw. sprachliches Denken, nicht notwendig zusammen, auch wenn es die meisten Menschen so erleben.

Die amerikanische Unternehmerin und Psychologin Temple Grandin ist wohl die erste autistische Person, die sich in den wissenschaftlichen Diskurs über Autismus eingemischt hat; das war in den 1980er Jahren. Sie hat ihn bis heute nachhaltig verändert und geprägt. Insbesondere mit ihrer These, dass autistische Menschen sich von den anderen im Wesentlichen dadurch unterscheiden, dass sie nicht in Sprache sondern in Bildern denken. Daher müssen sie ihre Gedanken in Sprache übersetzen, was den einen recht gut, den anderen eher weniger gut oder (fast) gar nicht gelingt.

Mir begegnete diese These zum ersten Mal Anfang der 2000er Jahre, nachdem ich Kontakt zu autistischen Internet-Communities aufgenommen hatte. Obwohl dieser Ansatz sehr plausibel klang und wie kaum ein anderer die Erfahrungen autistischer Menschen erklären konnte, gab es einen Widerspruch: Auch wenn nicht wenig autistische Menschen tatsächlich in Bildern denken, tun es viele nicht – so wie ich. Dennoch erleben sie ihr „eigentliches“ Denken als ein eines, dass sich von ihrem sprachlichen Denken unterscheidet. Das erleben offenbar die meisten Menschen nicht so; was die bekannten Kommunikationshürden zwischen autistischen und nicht-autistischen Menschen nachvollziehbar erklären kann. In der Folge kam Temple Grandin zu dem Schluss, dass sich beide im Wesentlichen durch ihr Denken unterscheiden. Der Unterschied zwischen autistischen und nicht-autistischen Denken besteht darin, dass letztere ihr Denken tief und untrennbar in der Sprache verankert haben.

Dennoch denken nicht alle autistischen Menschen gleich. Temple Grandin findet hier drei grundlegende Kategorien: Autist*innen, die in Bildern, in Mustern oder in Worten denken, wobei sich letzteres von einem sprachlichen Denken unterscheidet.

Doch das Thema Denkstile wurde schon zuvor diskutiert. Bereits 1941 unterscheidet Hanfmann zwischen wahrnehmungs- und konzeptbezogenen Problemlösungsstilen. Das entspricht der anfänglichen Unterscheidung von Temple Grandin, weil ein konzeptbezogenes ein sprachbezogenes Denken dasselbe sind und das Sehen – die Bilder – die menschliche Wahrnehmung dominiert oder zumindest leitet.

In der Folge gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zu Denk-, Lern- und Problemlösungsstilen, die allerdings alle weitgehend unbelegbare Hypothesen sind, wenn auch in bestimmten Zusammenhängen nützlich.

Im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre veröffentlicht Maria Kozhevnikov Forschungsergebnisse, die zeigen, dass die Koordinate visuell – verbal grundlegend für die Unterschiede zwischen menschlichen Denkstilen ist. Sie kommt dabei auch zu dem Schluss, dass es zwei verschiedene Typen von „Visualisierern“ gibt: „Objekt Visualisierer“, die ihr „Bilderdenken“ für lebendige, konkrete Bilder von Objekten nutzen, und „räumliche Visualisierer“, deren Bilderdenken räumliche Beziehungen zwischen Objekten repräsentiert. Dabei findet sie Hinweise, dass sich diese beiden Visualisierungsstile auch durch bildgebende Verfahren in der visuellen Wahrnehmungsverarbeitung wiederfinden lassen.

Object

Ein Objekt lässt sich in drei Dimensionen denken; es lädt dazu regelrecht ein, auch wenn es zweidimensional auf einem Foto erscheint. Es hat einen erkennbaren Rand, der das Innere von dem Äußeren trennt. Damit ist es auch deutlich von seiner Umgebung unterschieden.

Ein „räumliches“ Visualisieren legt seinen Fokus auf Strukturen und Muster, die Beziehungen zwischen Objekten darstellen. Diese Strukturen sind nicht als Projektionen, etwa von drei auf zwei Dimensionen, erkennbar. In ihnen sind Innen und Außen nicht unterschieden, sie haben keinen Rand und heben sich auch nicht von ihrer Umgebung ab, wie die Kartenflechte auf einem Stein.

In Wirklichkeit treten Objekte und Strukturen nie getrennt auf. Beide Sichtweisen sind vielmehr zwei Aspekte der Wirklichkeit. Die Welt, wie wir sie wahrnehmen, insbesondere auch visuell, ist dreidimensional und zugleich auch flach, eigentlich dimensionslos. Sie unterscheidet zwischen Innen und Außen und lässt zugleich beides als dasselbe erscheinen; in ihr gibt es Ränder und zugleich gibt es sie nicht.

Siehe auch / Se också: Erleben und malen / Uppleva och måla

Ich habe seit 2009 zahlreiche Workshops mit zusammen über 1000 autistischen Menschen durchgeführt, in denen es darum ging, den jeweils eigenen Denkstil zu entdecken. Diese Entdeckungsreisen fanden immer „bottom up“ statt, das heißt, die Denkstile wurden immer individuell erkundet. Dabei zeigte sich ein ganzes, obendrein mehrdimensionales Spektrum an unterschiedlichen Denkstilen, wobei das von Temple Grandin und Maria Kozhevnikov dargelegte Schema immer wieder erkennbar war:

verbal <-> (visuell Objekt <-> visuell Raum / Struktur)

Allerdings tauchten eine Reihe weiterer Aspekte oder Koordinaten bzw. Dimensionen auf, die ebenfalls wichtig für ein wirkliches Verstehen des eigenen Denkstils sind. Das sind insbesondere:

sehen <-> hören <-> fühlen / spüren (riechen eher nicht)

sprachnah <-> sprachfern (Sprechen oder Lesen / Schreiben)

sprachliche Perspektive: nachvollziehbar <-> nicht nachvollziehbar
(etwa eine Erzählendenperspektive)

motorisch versiert <-> motorisch eher unbeholfen

Gemeinsam ist auch allen Teilnehmenden, dass sie mehr oder weniger deutlich ein sprachliches aber auch davon unterschieden ein wahrnehmungsbezogenes, meist visuelles Denken erleben. Das zeigt sich deutlich in der Beobachtung von Temple Grandin und auch von mir, dass autistische Menschen, wiederum unterschiedlich ausgeprägt, zwei „Selbste“ wahrnehmen, ein „Verhaltens-Selbst“ und ein „Wahrnehmungs-Selbst“. Dabei repräsentiert das erstere einen Blick von außen auf das Verhalten und das letztere einen von innen, auf das eigene Denken und Wahrnehmen.

Die beiden einander komplementären Aspekte Objekt und Struktur / Raum der visuellen Wahrnehmungsverarbeitung finden sich in analoger Weise auch in der auditiven. Komplementär bedeutet dabei, dass diese Aspekte sich zugleich als Gegensätze einander ausschließen und zusammen vervollständigen und ein Ganzes bilden.

Dabei entspricht der Objektperspektive der Ton oder die Melodie, die auch einem Nacheinander einzelner Töne entspricht. Dabei ist der Ton eine idealisierte Vorstellung, die sich in einem reinen Sinuston realisiert, den es in der physikalischen Wirklichkeit nicht gibt. Tatsächlich sind alle Töne Klänge, physikalisch ein gleichzeitiges Vorkommen von Tönen, die sich einander überlagern. Dieser Umstand hat in der visuellen Wahrnehmung eine Entsprechung in Farben, deren idealisierte Formen, „reine“ Farben, nicht vorkommen. Farben haben das Vermögen, etwas über das Innere von Objekten auszusagen, etwa die Temperatur von strahlenden Objekten. Sie ermöglichen also, deren Oberfläche zu durchdringen und damit die Objektstruktur aufzulösen.

In ähnlicher Weise lösen Klänge das zeitliche Nacheinander von Tönen in Melodien auf. Doch auch Klänge stehen nicht für sich. Sie bilden zusammen mit dem Rhythmus ein komplementäres Paar wie Objekt und Struktur in der visuellen Wahrnehmung. In der auditiven Wahrnehmung gibt es demnach eine zweifache Komplementarität, die von Ton und Melodie und die von Klang und Rhythmus (mehr dazu in „Mathematik und Psychologie“).

Ein Sinuston gilt als „reiner“ Ton, weil er keine Obertöne enthält; ein „Rechteckton“ enthält dagegen sehr viele Obertöne. In einem weißen Rauschen kommen alle Frequenzen statistisch gleichverteilt vor. / En sinuston betraktas som en ”ren” ton eftersom den inte innehåller några övertoner, medan en ”fyrkantig ton” innehåller många övertoner. I vitt brus är alla frekvenser statistiskt sett jämnt fördelade.

Sine Tone (440 Hz)
Square Tone (100 Hz)
White Noise

Als zwei weitere Beispiele folgen ein Sinuston, ein sehr Klang-betontes Stück von Claude Debussy und ein Rhythmusbetontes von Alberto Ginastera / Som två vidare exempel kan nämnas en sinuston, ett mycket ljudbetonat stycke av Claude Debussy och ett rytmbetonat stycke av Alberto Ginastera:

Claude Debussy: Images I (Reflets dans l’eau)
Alberto Ginastera: Piano Concerto No. 1, 4. Toccata concertata

Ein Klang, den ich immer wieder gerne höre, ist der meiner Klangschale: Er vereinigt Klang und Rhythmus.

Gerne höre ich auch den Gesang von Amseln: Er verbindet Melodie und Klang auf eine faszinierende Weise, eine Melodie, in der Klänge als Töne und Töne als Klänge erscheinen.

Alles in allem ergibt sich aus den Erklärungsansätzen von Maria Kozhevnikov und Temple Grandin zusammen mit meinen Beobachtungen von und Gesprächen mit autistischen Menschen folgendes Bild:

In der Regel bildet die Sprache den Rahmen für menschliches Denken. Es ist darin eingebettet, die Menschen wohnen in ihr. Dessen ungeachtet ist das Denken auch von verschiedenen Aspekten der Wahrnehmungsverarbeitung geprägt, in erster Linie der visuellen, in zweiter auditiven und in dritter auch von der des Fühlens, der Körperwahrnehmung. Diese Aspekte treten bei autistischen Menschen in besonderer Weise hervor, da sie hier neben dem sprachlichen Denken als eigenständiger Aspekt des Denkens erlebt werden. Dass das sprachliche Denken als Wohnstätte auch wahrnehmungsbasierter Denkaspekte dienen kann, liegt darin, dass Sprache Sehen und Hören unter dem Primat des Sehens miteinander synchronisieren kann, indem ein Symbol, sei es eine Hieroglyphe, ein chinesisches Schriftzeichen oder ein Buchstabe, immer auch eine Aussprache hat und daher für einen Laut steht. Sprache vereinigt also unterschiedliche Aspekte der Wahrnehmungsverarbeitung, wenn diese sich in ihre Logik einordnen.

Das bedeutet auch, dass Menschen, deren Denken vollständig in Sprache eingebettet ist (und das ist bei den allermeisten der Fall), im Sinne einer sprachlichen Logik und einem konzeptbasierten Denken ähnlich denken. Ihre Denkstile spielen nur eine untergeordnete Rolle. Bei den anderen, insbesondere den autistischen Menschen fällt die Sprache als „Gleichmacher“ zumindest teilweise weg. Für ihr Denken sind ihre jeweiligen individuellen Denkstile von Bedeutung, um ihr Denken, Wahrnehmen und letztlich auch sich selbst zu verstehen.

Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.

Ludwig Wittgenstein

Das berühmte Zitat von Ludwig Wittgenstein zeigt, wie insbesondere in der westlichen Philosophie Sprache und Denken gleichgesetzt werden. Aus buddhistischer Sicht ist es gerade die Sprache, die die eigene Welt begrenzt – allerdings mit der Welt jenseits der Sprache und nicht diesseits.

Gränserna för mitt språk innebär gränserna för min värld.

Ludwig Wittgenstein

weiter / mer: Mathematik & Psychologie / Matematik & psykologi

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