Denk- und Wahrnehmungsstile
Tanke- och perceptionsstilar

Sprache & Neurodiversität / Språk & neurodiversitet

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Mathematik & Psychologie / Matematik & psykologi


Ende der 1980er Jahre absolvierte ich meinen Zivildienst. Ich hatte mich an mehreren Stellen beworben, eine davon war eine Tagesförderstätte für schwerst-mehrfach behinderte Jugendliche. Sie befand sich am Stadtrand von Hamburg in einem Pavillon-Gebäude aus den 1970er Jahren. Die Toreinfahrt war zerfallen, die Klingel kaputt und innen roch es überall muffig. Die zehn Jugendlichen waren alle schwer behindert, sprachen nicht, konnten bis auf eine Ausnahme nicht selbstständig laufen und die meisten von ihnen hatten schwere spastische Lähmungen. Die Arbeit dort war sehr pflegeintensiv.

Was mich damals besonders erschreckte, war, wie oft ich erlebte, dass, wenn wir draußen waren, Leute Bemerkungen machten wie, „Die sollte man nicht am Leben erhalten“ oder „Es wäre doch besser, wenn man sie sterben ließe“. Ich habe auch mehrmals erlebt, wie Ärzte die Behandlung verweigerten mit dem Hinweis, dass es besser wäre, wenn die oder der Jugendliche stirbt.

„Sprache ist das Haus des Seins“, stellte Martin Heidegger fest. Der Mensch wohnt sozusagen in diesem Haus der Sprache, er ist Teilnehmer an der Sprache und benötigt sie, um zur Welt in Kontakt zu treten. Eng verbunden ist Sprache auch mit der Endlichkeitserfahrung des Menschen. Wer spricht, ist nicht tot, sagte Gottfried Benn.
Sprache ist keine Konstante der menschlichen Existenz, sondern stets in Entwicklung. Das zeigt sich auch im lateinischen Wort „Kind“. „Infans“ bedeutet „sprachlos“. Der Mensch kommt sprachlos zur Welt und muss erst zur Sprache kommen. Solange die Sprache präsent ist, lebt der Mensch, befindet er sich im Haus des Lebens. Die Sprache verleiht ihm Sicherheit.

ORF: Sprache ist das Haus des Seins, 2017

Bis heute gelten Menschen, die nicht sprechen als keine „richtigen“ Menschen. Dagegen habe ich in meiner zehnjährigen Tätigkeit in der Behindertenhilfe gelernt, dass man mit nicht sprechenden Menschen sehr wohl kommunizieren kann. Es ist sogar so, dass sich gerade dann, wenn die Sprache als Kommunikationsmittel fehlt, ganz andere Wege und Möglichkeiten der Kommunikation eröffnen. Es sind Wege, die es auch ermöglichen, mit Tieren zu kommunizieren. Kommunikation ist etwas universelles, das weit über das Menschsein und menschliche Kultur hinausgeht. Vielleicht lernt man erst im Kontakt und Austausch mit nicht sprechenden Menschen, was Kommunikation eigentlich bedeutet. In den folgenden Texten, „Finger“ und „Jemandlos“ habe ich versucht, solche Kommunikationserfahrungen zu schildern:

”Språket är varats hus”, konstaterade Martin Heidegger. Människan bor så att säga i detta språkets hus, hen är deltagare i språket och behöver det för att komma i kontakt med världen. Språket är också nära förknippat med människans upplevelse av ändlighet. Den som talar är inte död, sa Gottfried Benn.
Språket är inte en konstant i den mänskliga existensen, utan är alltid under utveckling. Detta återspeglas också i det latinska ordet ”barn”. ”Infans” betyder ’mållös’. En människa föds språklös och måste först lära sig att tala. Så länge det finns ett språk är människan levande, hen befinner sig i livets hus. Språket ger dem trygghet.

ORF: Språket är varats hus, 2017 (tyska)


Eine andere Erfahrung zu Kommunikation machte ich zu Beginn der 2000er Jahre, als ich mit autistischen Communities Kontakt aufnahm, zunächst online, dann auch im „realen Leben“. Mit anderen autistischen Menschen funktionierte die Kommunikation vor allen Dingen in Gruppen wesentlich besser als in allen anderen Zusammenhängen, die ich bis dahin kannte. Tatsächlich war diese Erfahrung, dass Kommunikation unter autistischen Menschen ganz anders und vor allen Dingen auch besser funktionierte, war und ist eine prägende Erfahrung für die autistischen Communities von Anfang an bis heute. Donna Williams und Jim Sinclair, die in der Frühzeit dieser Communities Anfang der 1990er Jahre eine zentrale Rolle spielten, waren Zeugen, wie es Jim Sinclair beschrieben hat:

Donna Williams
Jim Sinclair

Vor diesem Hintergrund halte ich es für bemerkenswert, dass die Idee der Neurodiversität, dass Menschen sich auch in der Art und Weise, wie sie ihre Welt wahrnehmen und wie sie denken, unterscheiden, aus der autistischen Bewegung heraus entstanden ist. Ein wohl sehr grundlegender Aspekt ist dabei wohl, wie sprachliches und wahrnehmungsbezogenes Denken zusammenspielen; hierfür hat Temple Grandin sehr bedeutende Gedanken entwickelt, insbesondere, dass diese beiden Aspekte des Denkens von autistischen (und eventuell auch anderen neurodivergenten Menschen) als getrennt erlebt werden, während die meisten Menschen ihr Denken als eines erleben – eines, in dem das sprachliche Denken die Oberhand hat. Zur Geschichte der Neurodiversität verweise ich auf Wikipedia / Neurodiversity und das von Steven Kapp herausgegebene Buch Autistic Community and the Neurodiversity Movement.

Siehe auch / Se också: T. Grandin: Do Animals and People with Autism Have True Consciousness?

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